(Bibliografie, Romane, Granada, Buchbesprechungen):   expliziter Text 2

 

Rolf Krohn: Der Stern von Granada

© Gunther Barnewald

aus www.buchrezicenter.de (18. August 2019)

„Der Stern von Granada“ ist eine wunderbar recherchierte und hinreißend erzählte Alternativweltgeschichte, die zum größten Teil im 14. Jahrhundert spielt: Ein kleiner Meteorit explodiert 1319 in der Erdatmosphäre. Sein Donnerschlag veranlasst einige Menschen, andere Entscheidungen zu treffen, als sie dies in der uns historisch bekannten Welt taten.
So lässt die Interims-Regentin von Kastilien die Heilige Inquisition in ihr Land, obwohl sie deren Vorgehen eher ablehnt. Der junge andalusische Prinz Said ibn Omar schleicht sich an Bord eines Handelsschiffs, um dort Erfahrungen zu sammeln, zu leben und zu arbeiten, was der weise Kapitän Amir ihm nach dem Knall des „Himmelszeichens“ erlaubt.
Sechs Jahre später ist der junge Mann Herrscher einer kleinen, mehrheitlich muslimischen Provinz in Andalusien, dem Herrschaftsbereich der Muslime auf der Iberischen Halbinsel. Zwar ist Said weit von der Thronfolge entfernt, wird jedoch nach einem Anschlag auf den Herrscher, dem dessen Söhne und später auch der Kalif selbst zum Opfer fallen, zum Nachfolger erkoren. (Es gehört zum absoluten Höhepunkt der Geschichte, wie sich die Attentäter vor den Augen und Ohren des sterbenden Herrschers selbst entlarven.)
Der intelligente neue Regent der europäischen Muslime schafft es, die Provinz mit ihrer Hauptstadt Granada zu stabilisieren, Frieden und Wohlstand zu schaffen, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit einzuführen und eine Struktur aufzubauen, die ihn zu einem starken, gerechten und berechenbaren Nachbarn macht. Während auch Juden und Christen in seinem Reich vor religiöser Verfolgung sicher sind und ihren Glauben frei ausüben können, bedrängt die heilige Inquisition in Kastilien viele Gläubige, bringt sie gegen sich auf oder lässt sie zum „Feind“ fliehen.
Daher ist es unvermeidlich, dass der schwächelnde Herrscher von Kastilien, König Alfonso, das zudem reiche und prosperierende Nachbarland erobern will. Doch Said, der sogar die ursprünglich christliche Schwester eines Nachbarfürsten geheiratet hat, ist vorbereitet auf diesen Tag der Schlacht, die über das Schicksal der muslimischen Minderheit in Europa entscheiden wird.

Hauptsächlich spielt die Geschichte 1325 und in den folgenden Jahren. Es ist sensationell, mit welcher Leichtigkeit der Autor historische Authentizität erzeugt. Die Kleidung bei Hofe, zeitgenössische Riten und Gebräuche, das jeweilige Hofprotokoll; der Autor schüttelt all dies scheinbar aus dem Ärmel, sodass der Leser jederzeit das Gefühl hat, er sehe die Szenerien leibhaftig vor sich. (Zudem spielt ein kurzer Abschluss in einem modernen Europa, das durch einen demokratischen und toleranten muslimischen Staat in seiner Mitte positiv geprägt ist.)
Landschaft, Bauwesen, Standesdünkel: Immer kennt sich der Autor detailliert aus und bringt dieses Wissen wie nebenbei, in die Handlung ein, ohne darüber die Spannung zu vernachlässigen. Kleidung, Verhalten, Essen, Transportwesen: Diese und andere Aspekte des mittelalterlichen Lebens beschreibt Krohn mit einer Detailfreude, die kundige Leser an Jack Vance denken lässt. Man merkt dem Buch die jahrelange Recherche an, aber ohne dass dies der Lesbarkeit des Romans schadet.

Außer Krohn kann in Deutschland wohl nur Oliver Henkel ähnlich mitreißende Alternativweltgeschichten schreiben. (Leider hat man von diesem Autor seit Jahren nichts mehr gelesen.) Ist dies nun SF oder ein Historienroman? „Der Stern von Granada“ ist beides oder bzw. die perfekte Synthese. Zudem ist dies grandiose und vor allem geniale Literatur, und mehr muss man nicht wissen, um dieses Buch genießen zu können. Es ist mit einem kundigen und erhellenden Nachwort von Gerd Bedszent versehen (das man ruhig als Vorwort lesen darf, wenn man historisch nicht so kundig ist wie der Autor dieser Zeilen). Schade, dass es hierzulande für solch „abseitige“ Literatur weder Anerkennung noch Preise gibt – und offenbar keine etablierten Verlage und professionelle literarische Agenten, die sich für Autor oder Werk interessieren. Wer einen absoluten Meister seines Fachs genießen will, kommt an diesem Meisterwerk keinesfalls vorbei!

Rolf Krohn
Der Stern von Granada

Originalausgabe = dt. Erstausgabe: Juli 2019 (Edition TES/Ulenspiegel-Verlag)
Umschlagbild: Mario Franke
366 Seiten
ISBN 978-3-932655-51-7