(Bibliografie, Romane, Granada, Buchbesprechungen):   expliziter Text 4

 

Rolf Krohn:    Der Stern von Granada

© Erik Simon

Ist das nun Science Fiction oder ein historischer Roman?
Ja, ist es.
Zum einen ist es zweifellos Science Fiction, und zwar von der alternativgeschichtlichen Sorte. Ausgangspunkt ist der historische Stand des Jahres 1319: Die christlichen Königreiche Portugal, Kastilien und Aragon haben den größten Teil der Iberischen Halbinsel zurückerobert, im Süden aber hält sich als letzter Rest des einst mächtigen Kalifats von Córdoba das islamische Sultanat Granada.
Ein winziges Ereignis (winzig selbst für die SF, die mit oder ohne Zeitreisende gern aus kleinen Ursachen große Wirkungen ableitet) ändert bei Rolf Krohn den Lauf der Geschichte: Ein am Himmel vorbeifliegender Bolid, ein etwas größerer Meteorit – nicht etwa ein dramatischer Einschlag, sondern nur die optische und akustische Erscheinung –, wird von zwei Personen als Omen aufgefasst und lässt sie Entscheidungen treffen, die sich als weitreichend erweisen. In der Folge kommt in Granada – über verschlungene, aber durchaus plausible Pfade – ein anderer Mann an die Herrschaft, und das in beiderlei Sinn: Es ist nicht nur eine andere Person als in der realen Historie, sondern wird durch seinen Lebensweg nach dem Omen auch ein Mensch mit anderen Fähigkeiten und Einstellungen. In Kastilien hingegen wird früher als in unserer Realität die Inquisition eingeführt. All dies führt schließlich dazu, dass sich Granada gegen kastilische Angriffe behauptet und später, bis an die Sierra Morena vergrößert, bis auf unsere Tage fortbesteht.
Von der islamischen Re-Reconquista kommen aber nur die Anfänge ins Bild, und einen flüchtigen Blick auf Granada im 21. Jahrhundert bietet ein separater Text Rolf Krohns, der durch das zwischengeschaltete informative Nachwort Gerd Bedszents deutlich vom Roman abgesetzt ist. Der Roman spielt größtenteils in den Jahren 1325 bis 1333, mit dem schon erwähnten Prolog 1319 und einem Epilog 1343, und obwohl es am Rande noch etliche originelle alternativhistorische Details gibt, die der Autor geschickt aus Bedingungen und Ereignissen der Realgeschichte ableitet, liest sich das Ganze durchaus wie ein historischer Roman. (Allein schon, weil für die meisten deutschen Leser die reale Geschichte so exotisch sein dürfte wie die alternative.)
Darin unterscheidet sich Krohns Ansatz prinzipiell von dem bekanntesten alternativhistorischen Text, in dem das muslimische Granada bis in die Gegenwart fortbesteht – Philip Guedallas „Wenn die Mauren in Spanien gesiegt hätten ...“* Das ist eine kurze Sammlung von (natürlich fiktiven) Sachtexten, darunter historischen Abrissen vom Sieg der Mauren 1492 bis in die alternative Gegenwart (des Jahres 1931, in dem Guedallas Arbeit erschien), einem Artikel aus dem Baedeker und einem Bericht über die diplomatischen Verwicklungen, die der rätselhafte Tod des englischen Dichters Swinburne, nachdem dieser – rein zufällig, rein versehentlich!– in die Frauengemächer des Herrschers von Granada geraten war. Das ist sehr einfallsreich konstruiert, mit amüsanten Details und den für die Alternativhistorie typischen paradoxen Anspielungen auf die reale Geschichte, aber es ist eben kein Roman mit einem breit angelegten Hintergrund, einer verzweigten Handlung, einem größeren Personenensemble mit Haupthelden, Nebenfiguren und Statisten, mit Intrigen, Kämpfen, Entscheidungen. Rolf Krohns Buch ist das alles; just darum konnte ich auch die Grundzüge seiner alternativhistorischen Konstruktion umreißen, ohne Wesentliches zu verraten – wichtiger als das Was ist, wie und warum etwas geschieht.
Helden wie Schurken handeln im Roman glaubwürdig, plausibel und gemäß ihrem Charakter und ihrer Interessenlage logisch nachvollziehbar, hier und da vielleicht eine Spur zu logisch – eine Prise Irrationalität, wie sie ja im wirklichen Leben immer wieder vorkommt, hätte ihnen zusätzliche Dimensionen hinzufügen können. Die interessanteste Nebenfigur ist denn auch ein schlauer, moralisch flexibler Abenteurer, der dem Cid Campeador nachempfunden ist, eher der realen Gestalt aus dem 11. Jahrhundert als dem in der Legende etwas idealisierten spanischen Nationalhelden –, auch er folgt seinen Interessen, ist aber immer wieder für eine Überraschung gut. Die zweite Schwachstelle ist die ziemlich komplette Abwesenheit von Komik (abgesehen von der durchaus komischen, aber eher dramatisch präsentierten Szene um die Kleidung des Inquisitors), das freilich ist eine bei einem Großteil der historischen Abenteuerliteratur zu konstatierende Eigenheit, und Rolf Krohn weiß durchaus, dass Humor nicht seine Kernkompetenz ist, was ihn vorteilhaft von Leuten wie Karl May unterscheidet. Neben zahlreichen Details, die sich der Autor mit offensichtlich großer Sorgfalt und großem Gewinn angelesen hat, findet man mitunter Szenen, oft nur einzelne Sätze mit Beobachtungen, die staunen machen – sie wirken so unmittelbar einleuchtend, obwohl sie nicht naheliegend sind, dass nur jemand auf sie kommen konnte, der sich wirklich in die Situation zu versetzen vermochte.
Das betont logische Verhalten der Charaktere dient übrigens – außer der psychologischen Plausibilität – einem weiteren literarischen Zweck: der Plausibilität des gesellschaftlichen Exempels. Im Netz der historischen Zufälle, die der Roman durchaus als solche darstellt, bleibt als dominierender Gradient doch die Überzeugung, dass vernünftige Politik sich durchsetzt. Dreh- und Angelpunkt des Romans ist der Umstand, dass der künftige Sultan, zunächst noch ein unbedeutender Prinz aus einer unbedeutenden Nebenlinie des Herrscherhauses, davongelaufen ist und an Bord eines muslimischen Handelsschiffes mit sehr gemischter Besatzung und in den von ihnen angelaufenen nördlichen Ländern religiöse Toleranz nicht nur gelernt, sondern verinnerlicht hat und diese später auch ganz praktisch, ohne vor realen Notwendigkeiten die Augen zu verschließen, zum nutzbringenden Prinzip seiner Politik macht, während die Inquisition Kastilien eher zum Schaden gereicht. Der Autor rekurriert hier auf das Idealbild eines toleranten Islam, dem das Kalifat von Córdoba unter den Omajjaden durchaus nahe kam; in der Realgeschichte freilich hat dieses Bild später, nach mehrfachen Eroberungen durch eher fundamentalistische Neuankömmlinge aus Nordafrika, Schaden genommen und war zu Zeiten Granadas schon recht verschlissen – die Verhältnisse waren nicht mehr danach. (Bei Guedalla ist Granada eine Bastion der Aufklärung und nimmt protestantische Flüchtlinge aus dem Norden auf.)
Denn außer alternativgeschichtlicher SF und historischem Roman ist „Der Stern von Granada“ auch noch eine Gesellschaftsutopie – von der Möglichkeit und Nützlichkeit von Toleranz als politischem Anstand, gepaart mit realistischer Vernunft. Man sollte meinen, dass die deutschen Verlage dem Autor ein spannendes, ideen- und kenntnisreich geschriebenes Buch mit solcher Botschaft aus den Händen reißen müssten; dass es indes nur in einem engagierten Klein-, was sage ich: einem Kleinstverlag erscheinen konnte, ist ein weiterer betrüblicher Hinweis darauf, dass es den auch in deutschen professionellen Verlagen ausreichend vorhandenen Toleranzschwaflern weniger um Toleranz und mehr ums Schwafeln geht.

* Deutsch in: W. Jeschke (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr #2. München: Heyne 1987
                      J. C. Squire (Hrsg.): Wenn Napoleon bei Waterloo gewonnen hätte. München: Heyne 1999.

Rolf Krohn: Der Stern von Granada. Edition TES im Ulenspiegel Verlag: Waltershausen und Erfurt, 2019, 368 Seiten, 15,80 €, ISBN 978-3-932655-51-7