(Sonstiges)   Leseprobe Erzählung

Erzählungen – also Texte von einigen tausend Worten Umfang – sind das, was ich am liebsten und daher auch am häufigsten schreibe.


Die vierte Tür

1

Waffenrasseln und lustige Rufe weckten Agrast.
Er erschrak – es war bereits taghell! Wo befand er sich? Daheim in Cingaar? Nein, dieses mit Blauholz getäfelte Zimmer war fremd – und überhaupt viel aufwendiger eingerichtet als seine Wohnung. – Dann tauchte die Erinnerung auf: der geheimnisvolle Königsbefehl – die rastlose neunwöchige Reise durch das Rote Gebirge – gestern Abend die schwarzen Mauern – die Diener, die ihn führten ... Er war Gast im Stadtschloss von Anche.
Agrast stand auf, wusch sich in einem Steinguttrog, band den Schurz um, warf den Mantel über und blickte aus dem Fenster. Die große, purpurne Sonne goss einen blutigen Schein über Mauern und Dächer. Weil noch Sommer herrschte, strahlte die kleinere, weiße Sonne tagsüber, anstatt die Nachtfinsternis zu mildern. Obgleich die Augen schmerzten, wenn man sie ansah, wurde es in ihren Winternächten kaum hell. In der heißen Jahreszeit aber vereinigten sich beider Strahlen, und wie häufig zog sich zwischen ihnen ein rosa getönter Bogen über den Himmel. Es galt als gutes Omen, ihn morgens zu sehen.
Unten auf dem Hof übten girenische Soldaten das Fechten. Sie warfen die Eisenklinge von der rechten Hand in die linke, um den Partner zu täuschen, wechselten die Schildpfote, stießen vor und wichen aus, elegant, als wäre es ein Spiel. Einige blutende Schnitte verrieten dem Beobachter indes, dass sie keine stumpfen Waffen benutzten.
Hinter ihm gab es ein Geräusch. Agrast fuhr herum.
Ein Diener verneigte sich mit gekreuzten Händen und Pfoten. „Gnädiger Herr, der Fürststatthalter geruht, dich zu empfangen. Herr Yalmiron wünscht dein Erscheinen, um dich zu führen.“
„Ich komme.“ Vorzubereiten war wenig: Er kämmte sich den seidigen Pelz, prüfte den Sitz seiner Kleidung und steckte die Kupferspange an den Mantel, die ihn als freien Girener auswies. Dann verließ er das Gemach.
Vor der Tür wartete Hauptmann Yalmiron, der Führer seiner Eskorte, grüßte lässig und geleitete ihn. Das geschah nicht nur der Sitte halber. Im Schloss von Anche konnte sich ein Uneingeweihter verirren, so weiträumig und verschachtelt war es. Viele Generationen hatten mitgebaut; düstere Korridore folgten auf offene Kolonnaden, überall zweigten Zimmertüren und Seitengänge ab. Manchmal verwehrten ihnen gerüstete Wachen den Weg, Kampfschwerter in den Händen, eisenbeschlagene Schilde in den Pfoten. Dann sagte Yalmiron leise: „Gire für immer!“, und man ließ sie passieren.
Agrast fühlte sich unwohl. Zumal das Unbegreifliche der Reise bereitete ihm Sorgen. Zwar hatte man ihm zwei Packtiere gestellt, aber niemand antwortete unterwegs auf seine Fragen. Die zwölf Gardisten konnten oder wollten nichts verraten. Aber wusste nicht einmal der schweigsame Führer des Trupps, der dunkelpelzige Yalmiron, warum man monatelang ritt – um einen einzelnen Mann nach Anche zu holen?
Wieder eine Wache. Diesmal trugen die Krieger den ganzen Körper schirmende Holzpanzer und erzene Helme. Der Thronsaal konnte nicht mehr weit sein. Auf die Losung hin glitten die Schwerter in die Scheiden zurück, die Tür öffnete sich. – Aber hinter ihr erstreckte sich kein Saal. Sie traten ins Freie, in einen der vielen Innenhöfe des Palastes. Blumenbeete bedeckten den Boden und rahmten einen Weiher. Auf einer Marmorbank, flankiert von zwei alten Flammenbäumen, der eine grüngolden, der andere grünsilbern, saß Girenui, allein.
Agrast blieb stehen, neigte sich, bis auch seine Pfoten den Boden berührten. „Ewiger Ruhm dem siegreichen Sohn des Königs!“
Der Offizier neben ihm salutierte stumm.
„Es ist gut. Kommt näher und setzt euch!“
Diener stürzten heran und brachten zwei Hocker. Auf einem nahm Agrast Platz, auf dem anderen Yalmiron.
Der Regent flüsterte einem Bedienten etwas zu, worauf sich dieser eilig entfernte. „Hat dir die lange Reise geschadet? Bist du krank?“, wandte er sich an den Gast.
„Es geht mir gut, Hoheit“, versetzte Agrast vorsichtig. Dass Girenui wenig vom Hofzeremoniell hielt, war ihm bekannt; der Prinz, unter Kriegern groß geworden, konnte sich schwerlich im prunkvollen Palast von Anche wohlfühlen. – Aber der Anlass der Reise?
„Du hast sicherlich gefragt, warum ich meinen königlichen Vater ersuchte, dich mir zu schicken. Yalmiron durfte es dir nicht sagen; aber ich denke, du wirst nur ordentliche Arbeit leisten, wenn du die Wahrheit weißt. Im Heer halte ich das auch so. – Ich will keine lange Rede über Krieg und Sieg halten, die uns hierher führten. Begnügen wir uns mit dem Resultat. Das Land Anche-Tez ist besiegt, seine Hauptstadt in unserer Hand, der schändliche Überfall somit gesühnt ... Man nennt dich den Weisesten von Gire-Tez. Mal hören, was davon zutrifft. Warum ist diese Region so berühmt?“ Er beschrieb einen Kreis in der Luft.
„Hoheit, es ist ein fruchtbares Tiefland zwischen den Kristallfelsen im Norden, dem Roten Gebirge im Osten und dem Meer im Süden und Westen; nie verheeren es die Schneestürme, die uns so zausen, nie sengen die Sonnen über das Maß ... Die Rede geht, dass die Götter selbst wegen des Fleißes und der Demut seiner Bewohner ewigen Segen über Anche-Tez sprachen, bevor sie im Feuer gen Himmel brausten. Die hauptstädtischen Tempel gelten als Horte der Weisheit. Alle girenischen Hohenpriester erlangten hier ihre Weihen. Einem Heiligtum wird etwas Besonderes, fast Unglaubliches nachgesagt. Unter anderem deshalb plante auch ich eine Reise her, hatte allerdings bislang keine Möglichkeit, sie auszuführen ...“
„So dass du mir unendlich dankbar bist, weil ich sie dir bot“, vollendete Girenui lachend. „Natürlich bewog mich eigenes Interesse. Es hängt in der Tat mit der Tempelstadt zusammen. Sie ist in meiner Hand. Weil die Priesterschaft einen Meuchelmord versuchte, habe ich hart durchgegriffen. Beim Durchsuchen stießen meine Leute auf den Tempel des Feuerstrahls. Ist er das Heiligtum, das du meintest?“
„Ebender, Erhabener.“
„Was hast du von ihm gehört?“
„Nichts Genaues, Hoheit; Legenden.“
„Begreiflich. Er ist etwas Besonders. Gleich wird der Priester Thulmir hier sein und es erklären. – Du beherrschst doch die Landessprache?“
„Selbstverständlich, Hoheit, das alte und das gegenwärtige Anchische.“
„Desto besser. Ah, da ist er!“
Zwei Leibwächter führten einen Langgewandeten herein. Das grauweiße Kleid kennzeichnete den Priester, der silberne Halsring den mittleren Rang, und der schüttere, verblasste Pelz verriet, dass er auf die Fortpflanzung verzichtet hatte. Er grüßte unterwürfig und stumm.
„Höre, Thulmir! Dieser Mann ist der weise Agrast. Er erhielt von mir den Auftrag, festzustellen, was sich in deinem Tempel befindet. Du und die Deinen haben mir nur Rauch und Nebel vorgeführt, jetzt soll die Wahrheit ans Licht der göttlichen Sonnengeschwister. Ich bin Krieger, er ist ein Gelehrter, klug genug für eine Priesterweihe. – Seinen Anweisungen ist zu folgen wie den meinen. Erfahre ich, dass du ihm zuwiderhandelst, lasse ich dich in der ewigen Nacht der Erzhöhlen von Shingada zugrunde gehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Der Priester schlug die Augen nieder und verbeugte sich, bis alle sechs Extremitäten auf dem Boden lagen. „Deine und seine Befehle sollen befolgt werden, Hoheit. Aber ich schwöre, dass wir wirklich nur die ersten drei Zimmer ...“
„Agrast wird das untersuchen. – Hauptmann Yalmiron, du bürgst dafür, dass meinem Beauftragten kein Haar gekrümmt wird.“
„Wie du befiehlst, Hoheit.“
„Hast du noch eine Frage, Agrast? Oder eine Bitte? Du bewohnst die Zimmer im Palast. Was du begehrst, wird von meinem Hofstaat beschafft – aber ebne mir den Weg in diesen Tempel!“
Der Erhobene rang um Worte. Hätte man ihm die Statthalterschaft des eroberten Landes Anche-Tez angeboten, er wäre weniger verstört gewesen. Langsam aber erwachte sein nüchterner Verstand, und die ersten Fragen keimten. Wieso war es schwierig, in einen Tempel zu gelangen? Wenn das Tor nicht nachgab – schlimmstenfalls stieß man die Mauer ein. Ein Krieger wusste das am besten. Was meinte der Priester Thulmir damit, dass man nur drei Zimmer betreten könne?
„Ich will tun, was ich kann“, sagte er fast abwesend.
Der Königssohn schaute ihn aus seinen hellen Augen prüfend an. Dass die obligatorische Anrede fehlte, nahm er nicht übel; galt es ihm doch als Zeichen dafür, dass der berühmte Mann seine Arbeit aufgenommen hatte. – Soviel war Girenui als einem guten Feldherrn klar: Wer Tempel so versiegeln konnte, dass niemand hineinkam, besaß große Kraft. Seine Belagerungstechniker waren gescheitert, es bedurfte eines Weisen. Die anchische Priesterschaft betete das Heiligtum an und würde mit keinem Finger daran rühren. Demnach waren die girenischen Weisen, ohnehin in aller Welt als ungläubig verschrien, die geeignetsten Leute, um das Rätselschloss zu entriegeln.
Was man hinter den Mauern finden würde, stand in den Sternen. Nach Girenuis Vermutung konnte es nur nützlich sein. Rezepturen für die Erzschmiede oder Ratschläge für die Architekten oder Geheimnisse für die Kriegsführung. – Als gewiss war, dass es mit dem Tempel eine seltsame Bewandtnis hatte, hatte der Fürststatthalter sämtliche Berater der Reihe nach befragt. Schließlich verwies einer auf den weisen Agrast. Die einen behaupteten, dass er alles Technische beherrsche; und dass andere ihn der todwürdigen Götterverleugnung ziehen, empfahl ihn eher. Tags darauf brach Yalmiron mit zwölf berittenen Gardekriegern auf, um aus dem abgelegenen Cingaar in der südlichsten Provinz von Gire-Tez den Weisen nach Anche zu holen.
„Ich wünsche dir Erfolg, Agrast“, sagte der Prinz bedächtig. „Mein Lohn wird sogar dich erstaunen, denn in solchen Dingen bin ich nicht kleinlich.“ Mit einer Geste beider Hände beendete er die Audienz.

2

Seit dem niedergekämpften Aufstand nahmen gelangweilte girenische Krieger die Stelle der Priestergarde am festungsartigen Tor zur Tempelstadt ein. Vor Hauptmann Yalmiron salutierten die Posten. Niemand hielt die drei auf, niemand stellte Fragen.
Hinter dem Tor boten sich mehrere Richtungen an. Thulmir kannte sich aus und führte. Der Weg, von hohen Glasurziegelmauern gesäumt, führte manchmal durch einen schlecht beleuchteten Tunnel, dann wieder folgten öde Straßenpassagen. Kein Fenster öffnete sich auf diese Gasse. Selten begegneten ihnen Priester unterer Grade, nur einmal einer mit dem silbernen Halsring.
Unterwegs blieb Agrast still. Wohl interessierten ihn hundert Dinge; aber solange man nicht wusste, was überhaupt zu fragen war, tat der am klügsten, der nichts fragte. Die Philosophenschule Enistras hatte ihn das gelehrt. – Die Schweigsamkeit seiner beiden Begleiter entstammte dagegen verschiedenen Quellen. Ein Soldat redete nicht über geheime Angelegenheiten; den Priester verdross es, einen Girener ins Vertrauen ziehen zu müssen. Auch fürchtete er um sein Amt. Er hielt Agrast für den ausersehenen Hohepriester.
Ein unvermuteter Knick des Wegs führte auf einen großen vieleckigen Platz. Agrast vermochtete enen Aufschrei nicht zu unterdrücken.
Der Ursprung aller Legenden und Gerüchte – hier war er. Der Tempel des Feuerstrahls sah aus wie eine feurige Säule. Das Gebäude war rund, etwa acht Schritte im Durchmesser und drei Mal so hoch; augenscheinlich war es fensterlos. Das Merkwürdigste: Der Bau schimmerte im doppelten Sonnenlicht und warf rötliche, metallische Reflexe, als wenn er eine lebende Flamme wäre. Bei allen Geistern, an denen Enistra zweifelte – hatte der Architekt das Haus mit Eisen überzogen? Welch absurde Idee! – Und die Mauern wölbten sich zu einer halbkugeligen Kuppel. Niemand baute so. Gerade Agrast wusste das, weil er manche Nacht über Berechnungen vergrübelt hatte, wie man ein ideales Rundgewölbe bauen könne. In den Annalen stand nichts, und etwas Vernünftiges war ihm bisher nicht eingefallen. Nur so viel wusste er: Es musste möglich sein. – Freilich stand dahin, ob sich unter dem Äußeren auch ein gleich geformter Hohlraum befand. Doch warum nicht?
Agrast schaute seine Begleiter an. Beide nickten, als wäre noch zweifelhaft gewesen, ob man dem sagenumwobenen Tempel des Feuerstrahls gegenüberstand.
Wie schlafwandelnd näherte sich der Weise der Mauer, berührte zögernd das glatte Metall. Es fasste sich an wie ein eiserner Gegenstand. Wenn man die Situation indes recht bedachte – Eisen konnte das keinesfalls sein. Alle Welt wusste: Rost erschien schon nach Tagen, zumal nach regnerischen, sofern man ihn nicht mit Fett und Wachs abschreckte. Von solchem Schutz war nichts zu bemerken, dennoch befleckte keine rotbraue Spur die Glätte.
Was für titanische Platten! Doch wie befestigt? Agrast tastete, suchte einen Rand und Nieten, da er auf den ersten Blick nichts sah. Wie gut die Kanten auch zugepasst wurden ... Da, etwas wie eine Narbe zog sich durch das mattgraue Metall. Man musste allerdings äußerst scharf hinschauen, um sie überhaupt zu finden.
Welcher Meister hatte das gemacht? Jedenfalls kein Girener. Die Leute von Anche mussten großartige Schmiede sein. Solche Platten zu hämmern und zu verbinden! Es barg ungeheure Schwierigkeiten, gebrochene Schwertklingen zusammenzuschmieden, meist brachen sie an derselben Stelle aufs Neue. „Ein begnadeter Baumeister und eine Gilde hochrangiger Techniker ...“
Agrast wurde sich der Anwesenheit der beiden anderen bewusst und drehte sich um. „Thulmir, sprich: Wann und von wem wurde dieser Tempel errichtet?“
„Sollten wir nicht in das Opferhaus gehen, Herr?“, versetzte der Priester. „Es wird ein Weilchen dauern.“
„Das stimmt auch wieder. Eins vorweg, Hauptmann: Soviel ich vom Eisen verstehe, müsste man auch die dickste Platte mit einiger Geduld durchbohren können. Hat das niemand versucht?“
Ehe Yalmiron antworten konnte, lachte Thulmir auf. „Ihr Girener seid doch alle gleich! Der Oberst, der beim Sturm hierherkam, sagte wörtlich dasselbe; aber als er dann auf prinzlichen Befehl die Mauer niederlegen sollte, scheiterte jeder Versuch. – Schau bitte dort hinauf, von uns aus links – da, wo die Kuppel in die senkrechte Wand übergeht! Siehst du die Vertiefung?“
Der Weise strengte seine Augen an. Ohne den Hinweis wäre ihm die Beule entgangen. Auch so war sie kaum zu bemerken. Er wählte einen anderen Standort. Jetzt verstärkten die purpurnen Reflexe des doppelfarbigen Sonnenlichts den Effekt. „Ich sehe sie.“
„Zur Zeit der Elften Dynastie fiel ein faustgroßer brennender Stein vom Himmel – zufällig dagegen. Diese Spur blieb zurück. Du weißt, mit welch verheerender Wucht diese Sternstückchen niederstürzen. Wenn selbst er nur eine Delle schlug ...“
„... schaffen unsere Bohrer überhaupt nichts“, vollendete Agrast leise. Eisen, das nicht rostete, musste unvorstellbar fest und hart sein. Der prinzliche Auftrag erhielt Farbe. Es war so, wie Enistra mehr als einmal erklärte: Eine beantwortete Frage gebiert zwei neue, schwierigere. „Gehen wir!“
Sie betraten das Tempelhaus, durchquerten einige Räume, deren Ödnis noch Spuren der plündernden Girener aufwies, und gelangten in die Bibliothek. Hier gab es für Soldaten nichts zu holen, und bis auf wenige reparierte Regale war alles beim Alten geblieben. Agrast bestaunte insgeheim den reichen Bestand an Schrifttafeln.
Thulmir bot mit der Souveränität des Hausherrn Platz an, klatschte in die Pfoten und hieß einen Diener, Getränke und einen Imbiss bringen. Nach dem obligatorischen Trankopfer für die Unsichtbaren hob er an.
„Tag und Nacht sollte man dem Tempel des Feuerstrahls Ehrfurcht erweisen, so unvergleichlich ist das ihm innewohnende Geheimnis. Selbst ich Unwürdiger habe es gespürt ... Aber alles wächst aus dem Anfang. Ich werde ihn euch vorlesen.“ Von einem kerzengeschmückten Tischchen nahm er mehrere Steinplatten.
„Es begab sich zur Zeit der Dritten Dynastie von Anche. Weithin wurde König Ancheker als edel, stark und fromm gepriesen; und die Diener der Götter rieten ihm gut. In einer klaren Sommernacht erhörten die Unsterblichen die inbrünstigen Gebete und stiegen unter Rauch und Feuer herab, um zu sehen, ob ihre Geschöpfe der Gnade würdig seien. Sie ließen sich auf einem Felsplateau neben der Königsburg nieder. Ein Jahr lang stärkten sie die Macht des Herrschers über Anche-Tez und lehrten seine Priester Weisheit. Zuletzt prüften sie den Glauben der Eingeweihten und ihre Demut und befanden sie für würdig. Tags darauf sprachen die Unsterblichen den ewigen Segen über Anche und das gesamte Land Anche-Tez. Während sie als lodernder Feuerstrahl in den Himmel heimkehrten, erstand dieser eiserne Bau zur Mahnung und zur Lehre – stark wie die Macht der Götter und nur vom Weisesten und Demütigsten zu bezwingen. Thaljamir, dem ersten Hohepriester dieses Tempels, wurde ein Orakel zuteil: ‚Wer im innersten Raum steht, wird sein wie wir!‘
Die Sonnen zogen über den Himmel, die Jahre verstrichen, die Könige und Dynastien wechselten auf dem Thron von Anche ab. Die Priester beteten und lernten, antworteten und fragten. Bis zum heutigen Tag gelang es aber keinem, weiter als bis ins dritte Zimmer vorzudringen. Weit ist der Weg noch, und es mag sein, dass manche ermüdeten. Andere vergaßen über dem Wohlleben das Ziel. Weil aber der treue Dienst an den Göttern das Erste ist, erlahmte die Herrschaft unter der Achtzehnten Dynastie. Der unglückliche Krieg des Königs Ancheliss gegen die Girener ...“ Thulmir beendete den Satz nicht, weil ihm bewusst wurde, wer vor ihm saß. In Yalmirons Miene wetterleuchtete es bereits. Agrast dagegen schien kaum beeindruckt. Eine Weile war es still.
„Leider habe ich dich zur kleineren Hälfte verstanden, wie man bei uns sagt. – Solche bunten Legenden schmücken jede Stadt. Auch meine Vaterstadt Cingaar und andere Orte in Gire-Tez sind von den Ewigen oder zumindest von halbgöttlichen Dämonen gegründet worden, einige jüngere nur durch Heroen. Aber als man mir die Rekonstruktion der Seebastion übertrug, fanden die Arbeiter gestempelte Gründungsziegel eines vergessenen Königs ... Glaubst du, die Götter hätten den Tempel mit eigener Hand erbaut?“
Der Priester zögerte. Welch frevlerische Denkweise! „Selbstverständlich“, versetzte er endlich kühl und legte die Steinplatten beiseite, aus denen er die Legende und das Orakel vorgelesen hatte.
Agrast kraulte sich unschlüssig den Pelz. Natürlich, Thulmir predigte die Abkunft des Bauwerks von den Göttern selbst. Was wäre er ohne sie! Musste es stimmen? Falls nein: Etwas Gebautes konnte man einreißen!
Zwar war das keine Sache, die man aussprach; aber er glaubte überhaupt nicht an Götter, nicht einmal in dem laxen Sinn, der in den Oberschichten von Gire-Tez verbreitet war. Auch das hatte seine Lehrerin mit gefährlich einfachen Argumenten verschuldet: „Wichtig ist nur, was nicht weggestrichen werden kann. Ein Blitz entsteht bekanntlich, wenn zwei Wolken zusammenprallen; so wie Funken sprühen, sobald Eisen und Feuerstein aneinanderstoßen. Braucht man dann noch einen Blitzgott? Ist er aber entbehrlich ...“ Derartiger Worte wegen war Enistra zu Tode gekommen. Ihr Lieblingsschüler Agrast wollte nicht den gleichen Weg gehen, darum behielt er seine Erwägungen für sich. Zwar war zu vermuten, dass viele seine Ansichten kannten, manche wohl auch teilten; Gedanken aber gingen frei aus, Worte keineswegs.
Er riss sich aus seinen Betrachtungen. „Zeige mir doch zeitgenössische Zeichnungen von den Unsterblichen. Man munkelt daheim, sie hätten recht ... seltsam ausgesehen.“
Thulmir schluckte. Das wussten die Girener! So etwas interessierte sie – nicht aber der tiefe Sinn des Wunders, wie der Wille einer Gottheit in banale Dinge floss, auf dass sich der Tempel von allein materialisierte! Was galt ihnen der vieldeutige Rhythmus in den Silben des Orakels? Nach Äußerlichkeiten fragten sie. Wahrlich, Barbaren!
„Welche Urkunden hier lagern, ist mir selbst unbekannt, Herr“, sagte er spröde. „Du musst verstehen, ich war ... vorher keiner der Eingeweihten. Erst seit zehnmal sechs Tagen versuche ich Ordnung zu schaffen. Das Tempelarchiv kam zuletzt an die Reihe. Ich sichte es, um mich mit seiner Hilfe auf die Würde ..., die Bürde vorzubereiten. Niemand sonst ...“
„Viele Priester oberster Grade“, meldete sich Yalmiron, ohne den Verstummten anzuschauen, „gehörten zu den Beratern des unwürdigen Ancheliss und starben wie er. Andere beteiligten sich an der Revolte oder versuchten unsere Krieger an den Tempeltoren aufzuhalten. Dieser da fand Gnade vor den Augen des Fürststatthalters.“
„Schon gut. – Hast du nun Bilder, Thulmir?“
„Nur dies da!“ Der Priester reichte die Tafel mit den ersten Sätzen der heiligen Legende hinüber. Es war eine fast schrittgroße, polierte Kalksteinplatte, mit einer ätzenden Flüssigkeit beschrieben. Sobald sich die Schrift hineingefressen hatte, reinigte man den Stein und füllte die Furchen mit Farbpaste.
Auf einem pfotenbreiten Streifen über dem Text hatte jemand mit feinen Strichen den Moment festgehalten, da ein Gott dem König Ancheker und dem Priester Thaljamir den Orakelspruch gab. Die Skizze bestätigte das seltsame Gerücht: Der Gott hatte zwar Beine und Arme, aber darüber hinaus keine Pfoten!
Agrast gab die Platte an Yalmiron, der achselzuckend Text und Bild besah, sich aber nicht äußerte. ‚Was soll’s?‘, dachte der Hauptmann. Er kannte zahlreiche Götterbilder, bessere. Denn dieses enthielt einen bösen Malerirrtum. Einen Gott ohne Pfoten kann man nicht achten; der Priester hätte einen fähigeren Künstler bestellen und das Bild neu anfertigen lassen müssen.
„Wie ich es mir dachte“, sagte der Gelehrte leise. „Aber was bedeutet es?“ Eilig wandte er sich dem Priester zu. „Vor der Hoheit des Statthalters hast du etwas Seltsames geäußert: dass ihr schon in drei Zimmern wäret. Nicht wahr? Wie meinst du das? Wie viel Tore hat der Tempel?“
Thulmir erwiderte nicht ohne Bosheit: „Eines, nur eines, Herr. Man kann eintreten und muss sich Zimmer für Zimmer vorantworten. Leider ... Wir schaffen es nicht, bis ans Ziel zu kommen.“ Er breitete Hände und Pfoten aus. „Wie das abläuft, ist umständlich zu erklären. Du müsstest es ausprobieren.“
Etwas aufs Geratewohl zu tun, widerstrebte dem Gelehrten. Das stand in seinen Zügen geschrieben. Er zauderte.
„Gefahr droht dabei nicht“, warf der Hauptmann ein. „Ich habe es vorsichtshalber selbst versucht, um dir zureden zu können. Die Fragen waren aber zu ...“ Verstummend warf er einen grimmigen Blick auf den Priester. Hatte auf dessen Gesicht eben ein hämisches Grinsen gelegen?
„Wenn es so ist, sollten wir gehen“, entschied Agrast. Besser, er sah.

3

Als sie an der Nordwand des Rundgebäudes standen, fragte Agrast nicht. Er sah. Auf dem matten Metall zeichnete sich eine gerundet rechteckige Linie ab. Rechts daneben in Augenhöhe stand in altertümlichen Lettern der Wortlaut jenes Orakels, darunter war ein dicker, roter Knopf.
Neugierig untersuchte er die Schrift. Auffallend genug, dass dem Schreiber nicht der kleinste Schnitzer unterlaufen war, als er sie eingravierte. Anschließend hatte man sie mit einem goldroten Metall gefüllt. Das entsprach zwar der üblichen Methode, hingegen war wohl keiner imstande, so ein hartes Eisen zu ritzen. Einer übermenschlichen Fähigkeit bedurfte das.
„Sobald du darauf drückst, geht die Außentür auf. Aber bloß einer kann eintreten, und auch das nur einmal am Tag“, erklärte Thulmir eifrig. „Im Inneren des Tempels sitzt ein guter Dämon ...“
„Ich habe reden hören, wie man Dämonen macht ... in einigen Tempeln“, versetzte Agrast skeptisch, sich halb umdrehend.
Der Priester schlug die Augen nieder. „Ich weiß. Aber du wirst einsehen, dass da wirklich niemand ... falsch spielt. – Der hat keinen Namen; wenn man ihn fragt, nennt er sich Diener seiner Herren. Ist ein Diener von Göttern etwas anderes als ein Dämon? Er wird eine Frage an dich stellen. Auf die richtige Antwort hin öffnet er die erste Zwischentür – und so weiter. Alles das bekommst du übrigens zu hören.“
Eine Weile blieb es still. Der Weise kraulte sich das Fell. ‚Apart!‘, dachte er. Doch warum solche Umstände? Natürlich! Damals war Anche eine Insel im Meer der Barbarei. Die Erbauer wollten nur Verständige zu sich lassen. „Glaubst du an den Dämon?“
Oh, diese Ungläubigen! Der Priester antwortete nicht sogleich. Selbstverständlich ein Dämon, was denn sonst? Wie aber erklärte er das solchen Primitiven? Seit Anbeginn hatte niemand den Metallturm betreten oder verlassen. Sollte ein Mensch darin sein, er wäre im Wechsel der Dynastien von Anche verdorrt und verschmachtet. Weder Speise noch Trank konnten derart lange vorhalten. Es war ein Dämon! Er sagte das so simpel wie möglich.
„Versuchen muss man es“, meinte Agrast daraufhin. Er wusste bereits, dass nichts ihn an diesem Wagnis hindern könnte. Jeder Weise litt an der gleichen Krankheit: an nie versiegender Neugier. – Er drückte entschlossen den Knopf.
Ein kratzendes Geräusch – dann klappte die Metalltür nach innen. Ein Windstoß blies Sand aus der Öffnung und ließ die beiden Girener zurückzucken. Thulmir grinste verborgen; wie alle Priester kannte er den Atem des Tempels.
Agrast überwand eine gewisse Scheu und trat ein. Als er sich unruhig, aber neugierig umblickte, bemerkte er, dass sich die Tür lautlos hinter ihm geschlossen hatte. Jetzt erst wurde ihm etwas Seltsames bewusst. Es hätte stockfinster sein müssen. Doch auf unbegreifliche Weise leuchtete die Zimmerdecke in weißgelbem Licht und erhellte das Gemach bis in jeden Winkel. Es war merkwürdig geformt: wie ein Stück eines breiten Ringes, vielleicht ein Drittel davon oder ein Viertel. Von Länge und Breite ließ sich deshalb schlecht sprechen. Gut möglich, dass der anschließende Nebenraum ähnlich geformt war; und er würde nach Frage, Antwort und abermals Frage und Antwort die Mitte des Tempels umkreist haben. Im Zentrum befand sich wohl das Heiligste. Doch – wie dann weiter? Und weshalb Fragen? Welch merkwürdige Sitte!
Er trat ein Stück zur Seite und gewahrte in der linken Querwand den eingeritzten Türumriss. Dorthin also – oder zurück!
„Ich begrüße dich, Bewohner dieser Welt!“, unterbrach ihn eine deutliche, glatte Stimme. Sie benutzte das alte Anchisch, dessen sich nur noch die Gelehrten untereinander bedienten; andererseits klangen die Worte so frisch, dass ihr Sprecher nicht alt sein konnte. „Du bist zu uns gekommen, um zu erfahren, was es mit uns auf sich hat. Ich bin beauftragt, dich zu prüfen, denn nur ein Weiser darf die Wahrheit vernehmen. Bist du bereit, meine Fragen zu beantworten?“
„Ich bin bereit“, sagte Agrast beklommen. Was geschah eigentlich? Man sprach zu ihm, doch wer und woher? Die cremefarbigen Mauern waren glatt wie poliertes Metall, aber gewiss weder Bronze noch Eisen. Er betastete die nächste Wand. Sie fasste sich beinahe warm an. Auf welche Weise drangen die Worte zu ihm?
„Wie viele Tage enthält ein Jahr?“
„Viertausendfünfhundertundelf – ein halbes Menschenleben lang“, erwiderte Agrast verblüfft. Mit solch einem Thema hatte er zuallerletzt gerechnet. Wenn der da hinter der Wand ihn nach Passagen aus Götterlegenden oder nach dem Ritus der Heiligen Flamme gefragt hätte ...
„Deine Antwort ist genau genug. Du darfst jetzt selbst eine Frage stellen und hernach ins anschließende Zimmer gehen.“
Schurrend klappte das umschriebene Wandstück zurück.
Fragen? Was? Ja, so: „Wie viel solcher Zimmer gibt es in diesem Tempel?“
Er konnte gerade Atem schöpfen, da erklang die Antwort. „Sechzehn.“
„Weshalb gerade sechzehn?“
Es blieb still, und Agrast erinnerte sich, nur eine Frage frei gehabt zu haben. Vertan! Oder auch nicht. Es nutzte, wenn man wusste, wie weit es zum Ziel war.
Zuversichtlich betrat er den nächsten Raum. Seine Vermutung wurde bestätigt; dies Zimmer war ebenso ein Ringsegment, nur prangten die glatten Wände in blassem Grün. Beides beruhigte den Weisen ein wenig.
„Bist du bereit, meine Frage zu beantworten?“ Dieselbe Stimme. Der Girener vermutete, dass – wer der Jemand auch immer war – dieser ... Mann innerhalb mitging. Durchaus konsequent, nur eine Audienz zu gewähren. Ein Mehr würde die Bedeutung entwerten. Dazu die Sache mit dem Alter und der Nahrung ... Er nahm sich zusammen.
„Ich bin es.“
„Das Wievielfache des Durchmessers umfasst ein Kreis?“
‚Oh!‘, dachte er. ‚Das ist keine leichte Frage. Neun von zehn girenischen Philosophen und sicher viele anchische Priester würden flugs Drei! erwidern. Aber bei meinen Gewölbekonstruktionen bin ich mehrfach darauf gestoßen, dass die Zahl geringfügig größer ist. Der genaue Wert scheint mir aber keine handhabbare Zahl zu sein. Gern hätte ich das Verhältnis Kreisfaktor genannt, doch das Wort lässt sich nicht ins Altanchische übersetzen.‘
„Soviel ich herausbekommen konnte, verhalten sich Umfang und Durchmesser wie zweiundzwanzig zu sieben“, erwiderte er zögernd.
„Deine Antwort ist genau genug. Du darfst jetzt selbst eine Frage stellen und hernach ins anschließende Zimmer gehen“, wiederholte der Unbekannte. Einladend öffnete sich die Tür zur Linken.
Zuerst wollte Agrast nachhaken, was es mit der ungewöhnlichen Zahl der Zimmer auf sich habe. Aber es gab Wichtigeres – speziell für ihn als Architekten. Wie erfuhr er die Wahrheit? Er besann sich auf den Dreh, mit dessen Hilfe seine Lehrerin das Tempelorakel von Gire des Betrugs überführt hatte. Eine Weile formulierte er im Stillen, dann öffnete er den Mund: „Du sagtest, meine Antwort sei genau genug; ich schließe daraus, sie ist nicht exakt. Mir liegt an der Wahrheit. Was hätte ich antworten müssen?“
Diesmal blieb es eine geraume Zeit still. Agrast befürchtete, den ..., den Frager gereizt zu haben. Jene Entlarvung hatte Enistra schließlich den Hass der girenischen Priesterschaft zugezogen. – Was geschah dann? Irgendwie glaubte er aber nicht an eine Gefahr, allenfalls an einen Hinauswurf. Wer nach der Weisheit forschte, ignorierte Zwischentöne.
„Ich kann dir nicht antworten. Täte ich es, erhieltest du Wissen, das euch erst in einem späteren Stadium zusteht. Stelle eine neue Frage!“
Agrast hätte gern aufgelacht, so erleichtert fühlte er sich. Allerdings wurde alles komplizierter, wenn sein unsichtbarer Gesprächspartner rein sachlich reagierte. Eine andere Frage? Er fragte nun doch: „Warum sind es gerade sechzehn Zimmer, warum nicht achtzehn oder zwanzig?“
„Ihr zählt aufgrund eurer Finger und Zehen; wir pflegen zu zählen: eins, zwei, vier, acht, sechzehn, zweiunddreißig und so fort. Das ist zweckmäßiger. Um so anspruchsvolle Fragen zu stellen, wie sie nötig sind, damit ihr die ganze Wahrheit erfahrt, reichen nach Auffassung meiner Herren sechzehn Zimmer aus. Ausgenommen das unterste, sind in jedem Stockwerk sechs. Der letzte Raum befindet sich oben in der Kuppel.“
Agrast ging nach nebenan; nachdenklich, denn das Gehörte beschäftigte ihn sehr. Dieses Zimmer war in leuchtendem Purpur gehalten, als wenn die rote Sonne es erfülle. Wie erwartet, befand sich eine Türlinie in der linken Wand ...
„Bist du bereit, meine Frage zu beantworten?“, fragte der Unsichtbare gleichmütig.
„Sprich!“
„Welche Gestalt hat die Welt?“
Ein Schauer überlief Agrast und ließ seine Pelzhaare erzittern. Wahrlich, die Fragen wurden von Zimmer zu Zimmer schwieriger. Wie viel Tage ein Jahr hatte – man musste nur geduldig zählen, die Position der Sonnen beobachten und wusste es; Umfang und Durchmesser des Kreises zu vergleichen war mit ein bisschen Verstand ebenso möglich. Aber das? Er erinnerte sich, wie in Enistras Philosophenschule erbittert gestritten wurde. Die Majorität verfocht die These der Schale, die im Weltmeer schwamm. Andere schworen auf andere Bilder, einige hielten die Frage für prinzipiell unlösbar. Er hatte sich Enistras Ansicht angeschlossen, zaudernd, denn war ihre Antwort unanfechtbar? Außer ihrem indirekten Beweis gab es nichts. Man hätte schon wie ein Vogel am Himmel schweben müssen.
Er musste Stellung beziehen. „Ich meine, sie ist eine große Kugel. Meine Lehrerin ließ im letzten Sommer an zwei weit voneinander entfernten Stellen den Winkel messen, unter dem das Licht der roten Sonne herabfällt. Aus dem Unterschied errechnete sie den Durchmesser der Welt auf vierzehntausend Pets.“
„Wie groß ist ein Pet?“, kam unverzüglich die Gegenfrage.
‚Ach ja, die alten Ancher hatten bloß Quels! Dumm, dass ich das vergaß‘, erinnerte sich Agrast. ‚Ein Quel ist ein Schritt, selten präzis anzugeben, ein Pet dreitausendsechshundert Fußlängen. – Wie rechnet man das Eine in das Andere um?‘ Zögernd erläuterte er die Situation und fluchte insgeheim, weil die alte Sprache kaum passende Worte bereithielt.
Sein Zuhörer schwieg eine Zeit lang. Sicherlich prüfte er nach. Agrast nahm das für ein gutes Omen. Falls seine Antwort „Kugel“ falsch gewesen wäre, würde der andere nicht erst nachgefragt haben. Oder unterschob er dem ... Dämon fälschlich menschliche Denkweisen?
„Deine Antwort ist zu ungenau. Ich hatte allerdings nicht nach den Abmessungen der Welt gefragt“, sagte der Unsichtbare. „Ich erkenne sie also als gültig an. – Du darfst jetzt selbst eine Frage stellen und hernach ins anschließende Zimmer gehen. Ich spreche dir mein Lob aus, weil du als Erster den vierten Raum betreten wirst; meine Herren werden das zu gegebener Zeit erfahren.“
Die Seitentür klappte auf. Hinter ihr sah man eine Stufenfolge.
Erschöpft lehnte sich der Weise an die Wand. Schweiß brach ihm aus allen Poren und durchfeuchtete seinen Pelz. War er wirklich zu alt für seine Aufgabe? Hier war doch das Ziel, nach dem er zeitlebens gestrebt hatte! Hier lehrte man – wenn es auch gewissermaßen unwillig geschah. Enistra müsste hier stehen ...
Sechzehn Zimmer, jede Frage schwieriger als die vorherige. Die Erbauer wünschten nicht mit Dummen zu reden. Begreiflich. Wer war in ihren Augen würdig? Er gewiss nicht; denn wer schon zu Anfang der Prüfung voranstolperte und lediglich fast zufällig weiterkam, würde im nächsten Gemach sicher scheitern.
„Nenne mir doch eine Frage, wie sie in späteren Zimmern gestellt wird!“
„Das ist ein Befehl. Ich nehme keine Anweisungen entgegen.“
„Ich verstehe, verzeih. – Was du im nächsten Raum fragst, werde ich sowieso hören. Welche Frage würdest du im ... zehnten Zimmer stellen?“
Die Antwort kam augenblicks. „Welche Frist braucht das Licht im Minimum, um von eurer weißen Sonne bis hierher zu gelangen?“
„Welche ...?“ Fröstelnd ging der Girener weiter. Er sagte nichts mehr, war bereits besiegt. Allzu hoch ragte die Mauer zwischen ihm und der Wahrheit.
Der Treppenschacht war von halbkreisförmigem Grundriss. Sechzehn Stufen führten in Wendelform hinauf. Alles war silbergrau und metallglatt, aber nicht von Eisen. In Kopfhöhe begleitete ein leuchtender Streifen den Emporsteigenden. Agrast berührte das weiß strahlende Lichtband, spürte aber nichts vom Feuer, das hinter dem Bergkristall lodern musste. Er verstand immer weniger. Ein Bau der alten Ancher? Ausgeschlossen. Wessen Werk sonst? Doch der Götter? Danach musste er beim nächsten Mal fragen!
Oben angekommen, schöpfte er Atem. Keine Tür sperrte den Weg ins erste Zimmer des Obergeschosses. Er fuhr zurück und schrie leise auf. Die gekrümmte Außenwand fehlte! Eine Veranda! Warum hatte er das von außen nicht gesehen? Er trat näher und bemerkte sogleich, dass zwischen ihm und dem Abgrund eine fast durchsichtige Mauer von Bergkristall war. So große Steine hatte er noch nie gesehen. Übrigens – von außen wirkte der Tempel doch wie aus Metall geschmiedet, da war keine Spur von kristallgefüllten Fenstern. Sehr merkwürdig das.
Sein Blick reichte über die Häuser der Tempelstadt bis zum Schloss von Anche. Die Flammenbäume des Parks verschwammen auf die Entfernung zu einem metallisch schillernden See von Grün und Silber und Gold. Hinter allem zog sich die Kette des Roten Gebirges ...
Über dem Unerhörten hatte Agrast den Ritus versäumt. Erst als die Stimme aus der Wand zum zweiten Mal und wohl lauter fragte, antwortete er.
Das Befürchtete geschah. Die Frage ließ sich nicht beantworten. Welcher Mensch konnte wissen, wie weit entfernt von der Welt die rote Sonne leuchtete? Obendrein – wieso „im Mittel“? War sie denn manchmal näher? Ungemein entfernt gewiss, aber eine Zahl? Agrast mochte nicht raten und lügen, er gestand seine Unwissenheit.
„Die Antwort ist ungenügend. Ich fordere dich auf, dieses Zimmer und alle vorher aufgesuchten zu verlassen. Falls du widerstrebst, muss ich meine Hilfsmittel benutzen. Es wäre unangenehm für dich.“
Agrast gehorchte widerspruchslos. Wer das gebaut hatte, verfügte über Kräfte, gegen die kein Girener ankam, nicht einmal der tapfere Girenui.
Er ging die Treppe hinab, hinter ihm schloss sich die vierte Tür. Er passierte den roten, den grünen und den cremefarbenen Raum, hinter ihm klinkten die Türen ein. Dann öffnete und schloss sich die Außentür. Thulmir und Yalmiron schauten ihn neugierig an.
„Gehen wir!“, sagte Agrast abwesend. „Ich muss das erst einmal durchdenken. Anschließend stellen wir einen Arbeitsplan für die nächsten vier, fünf Tage auf. Am sechsten, denke ich, kann ich vor Seine Hoheit treten.“

4

Im Kleinen Audienzzimmer brannten einige Kerzen, zu wenige, um den Raum zu erhellen. Yalmiron und Agrast waren allein, eine Hoheit wartete nicht auf Untertanen. Wann der Fürststatthalter erscheinen würde, stand dahin. Zur Zeit beriet er mit den Führern der Krieger. Man munkelte im Palast, in den Bergen im Nordwesten von Anche-Tez gebe es Anhänger des erschlagenen Königs Ancheliss, die sich zu einem Gegenangriff sammelten. Sollten die Girener bis zu den Grenzorten vorstoßen und sie besetzen? Das Expeditionskops war nicht allzu stark, man musste sorgsam erwägen, ob man größere Teile absplitterte. Zudem nahte der Winter und würde die Pässe über das Rote Gebirge für Nachschub unbegehbar machen.
Wachhauptmann Yalmiron zerbrach sich darüber nicht den Kopf. Seine Mission näherte sich dem Ende. Er fühlte sich leichter. All das stand seinem Metier so fern! Die Schwerter in den Händen, die Schilde in den Pfoten – so hatte er seinen Weg vom Jungkrieger zum Offizier gemacht. Was kümmerte ihn ein rätselumwitterter Tempel aus Eisen? Oblag es ihm, sich mittels spitzfindiger Fragen und Antworten von einem Zimmer ins andere zu – bitten? Leider war es tatsächlich unmöglich, mit Ramme und Schleuder die Türen zu sprengen. Sonst hätte man auf Agrast verzichtet.
Es entstand ein Geräusch. Zwei Gardesoldaten begleiteten den Prinzen herein, Yalmiron salutierte, Agrast berührte mit den Pfoten den Boden.
Girenui nahm Platz und winkte den beiden, sich ebenfalls zu setzen. Die Leibwächter blieben hinter ihm stehen. „Nun, Agrast, was kannst du berichten?“
„Hoheit, ich habe gute und weniger gute Nachrichten. Zwar gelang es mir, die vierte Tür zu öffnen ...“ Er schilderte seine Erlebnisse im Tempel, skizzierte die Gemächer, wiederholte die Gespräche, so gut es seinem Gedächtnis möglich war. „Aber“, so schloss er, „ich fürchte, Deine Hoheit wird aus dem Tempel nie den Nutzen ziehen können, der dir wohl vorschwebt. Darin ist Wissen gestapelt wie Kornsäcke in einem Speicher, und ein dienstbarer Geist stellt Fragen und beantwortet andere gleich einem Magazinverwalter, der einnimmt und ausgibt.“
„Also doch ein Dämon, wie der Priester sagte.“
Agrast öffnete den Mund zum Protest. Rasch besann er sich und sagte nur: „Es scheint so.“ Wie hätte er dem Prinzen erklären sollen, dass alles viel komplizierter war? Dass seines Erachtens kein Gott den Tempel erbaut hatte? Enistras Geist schwebte unsichtbar durch den Raum und warnte. „Zumindest kann ich eins beweisen: Die den Tempel schufen, waren keine Menschen wie wir. Wir haben an Händen und Pfoten je sechs Finger und ebenso sechs Zehen an den Füßen. Kein Wunder, dass wir sechs, zwölf, achtzehn und so fort zählen. Im Tempel des Feuerstrahls tut man es aber anders ...“ Er wiederholte die Geschichte von der Zimmerzahl. „In den verflossenen Tagen ließ ich das Tempelarchiv systematisch durchsuchen. Es ist ja voll von Berichten über – Verkündigungen. Rein mechanisch ordnete ich die Notizen danach, welche Fragen in welchem Raum gehört wurden. – Bisweilen ist seelenlose Gründlichkeit von Nutzen. Wie sich herausstellte, wird im ersten Zimmer immer nur eine von acht verschiedenen Fragen gestellt, im zweiten eine von sechzehn, allerdings anderen, komplizierteren Fragen; im dritten hat man bis heute achtundzwanzig verschiedene aufgeschrieben ... Ich verwette meine rechte Pfote, dass es zweiunddreißig sein werden. Im nächsten kenne ich jetzt die erste von wohl vierundsechzig. Sieh, Hoheit, das ist nicht unsere Zählweise, sondern eine andere ...“
„Eine göttliche!“, fiel der Königssohn ein.
Agrast deutete mit einer Kopfbewegung seine halbe Zustimmung an. „Ich denke, man kann dort noch unglaublich viel lernen. Allein vier Besuche im Tempel lieferten mir so viel Stoff zum Nachdenken, dass es für ein Jahr reicht. Man hat mich gelehrt, dass eine Antwort zwei Fragen gebiert.“
Girenui lächelte flüchtig. Enistras Motto war ihm bekannt. Ein Berater hatte es als Indiz für die gefährliche Gottlosigkeit Agrasts angeführt, als er dessen Berufung widersprach. – „Zum Beispiel? Vergiss nicht, dass du mit einem unweisen Fürsten sprichst und nicht mit einem Philosophen.“
Es wurde bedrohlich still. Dann fuhr der Prinz fort: „Ich habe genau hingehört, Agrast. Dass du ungläubig bis zum Frevel bist, wurde mir schon zugetragen. Die Leute hatten Recht. Ich will darüber hinwegsehen, weil ich Fürststatthalter und kein Großpriester bin. Aber das bedeutet ja nicht, taub und blind zu sein. – Am besten bleibst du dabei, von Dämonen und Göttern zu sprechen.“
Agrast verneigte sich bis zum Boden. Ihm war ins Bewusstsein gerufen, welche Gefahr vor ihm stand. Girenui mochte leutselig und wohlwollend sein – er war nicht seinesgleichen, mit dem man ohne Ansehen der Person disputieren konnte. „Deine Hoheit mag mir die Wortwahl nachsehen. Der ... Dämon fragte mich beispielsweise, welche Frist das Licht von der weißen Sonne braucht, um uns zu erleuchten. Hoheit, ich hätte keinen Gedanken an das Problem verwendet, ob es überhaupt Zeit benötigt – ich ahnte nicht einmal, dass man dergleichen irgendwie messen könnte. Zumindest das weiß ich jetzt. Siehst du, deshalb hoffe ich, dort noch viel zu lernen. Nur – es ist eben nichts, was einem Herrscher deines Ruhmes nützen kann.“
Girenui nickte. Wohl gesprochen. Dennoch – uninteressant? War dort überhaupt nichts, was er zur Heeresrüstung verwenden konnte? „Frage beim nächsten Mal den Dämon, woraus man Schwerter machen kann, die nicht mehr brechen. Oder wie man die Schussweite unserer Feldkatapulte erhöht.“
Yalmiron richtete sich auf. „Hoheit, das eine unternahm ich auf eigene Faust, als Herr Agrast mir von seinem ersten Erlebnis berichtete. Während er tags darauf Steintafeln und Rindenbriefe sortierte, betrat ich den Tempel des Feuerstrahls, beantwortete glücklich die erste Frage und erkundigte mich nach ebendiesem Thema. Ich hatte einen besonderen Anlass. Du weißt gewiss, dass beim Kampf um die Mauern von Anche das Schwert meiner Ahnen barst und ich mich nur mühsam mit dem zweiten Schwert verteidigte, bis meine Krieger mir zu Hilfe kamen. – Der Dämon erwiderte, man müsse dem Schmiedeeisen gewisse Mengen gewisser Stoffe zusetzen, für die es im Altanchischen aber keine Namen gebe. Ich Unweiser ging so klug, wie ich kam.“
„Angesichts dieses Resultats tat ich heute ein Übriges“, fügte Agrast hinzu, „und erkundigte mich im dritten Raum, wie man die Ballisten verbessern könne. Das fällt ja ein bisschen in mein Metier. – Die Antwort war eine Absage. Er werde sich nicht äußern, weil seine Herren über alledem stünden.“ Es war nicht die ganze Wahrheit.
Die Lippen schürzend, betrachtete Girenui den Mann aus Cingaar. Was er und der Hauptmann gesagt hatten, passte zueinander. Und es war auch irgendwie vernünftig, wenn auch nicht für einen Prinzen. Die Frage lautete nun: Wie entschied er sich? Er konnte selbst hingehen ..., aber es wäre dem Ansehen eines Fürststatthalters abträglich, zuzugeben, dass ein Agrast mehr erreichte als er. Die Worte des Dämons waren zweifellos eine wohlformulierte Ausrede. Er kannte dergleichen von Höflingen. Man wollte den Menschen nicht helfen. Weshalb auch? Kümmerte sich ein König um den Zwist zweier Bauern? Was also tun?
„Ich werde meinem königlichen Vater Bericht erstatten“, sagte er langsam. „Das letzte Wort steht ihm zu. Ich verfüge, dass Agrast bis auf Weiteres den Tempel leiten soll. Was immer für mich an Wissen herausgeholt wird, es kann wohl nur nützen. – Yalmiron, dir übergebe ich die gesamte Tempelwache; zu diesem Zweck ernenne ich dich zum Oberhauptmann.“
„Ich danke dir, Hoheit.“ Yalmiron salutierte.
„Auch ich danke dir, Hoheit“, schloss sich Agrast an. Da die Worte eindeutig die Entlassung bedeuteten, ließ er sich auf die Pfoten nieder und verließ rückwärts gehend den Kleinen Audienzraum.

5

Seufzend glättete Agrast das Schreibmaterial. Es war ein großes Stück Baumrinde. Gewöhnlich notierte man darauf unwichtige Dinge und übertrug sie bei Bedarf auf die ewigen Steintafeln. Was er niederschreiben wollte, war freilich nicht belanglos.
Er befand sich in einem abgelegenen Raum des Opfergebäudes. Seit zwei Tagen musste man ihn Hohepriester nennen – er legte keinen Wert auf den Titel und trug den Goldreif fast nie. Doch nun lag in seiner Hand der Schlüssel zur Weisheit. Wenn er nur wüsste, wie man ihn bediente!
Es war Zeit, die tote Lehrerin teilhaben zu lassen. Agrast begann zu schreiben, zu berichten, was das Resultat seiner Überlegungen war. Er hatte es immer getan, ob sie nun lebte oder nicht.
„Was geschehen ist, weißt du sicher; weil die Toten ja alles Geschehene wissen. Aber du sollst erfahren, was ich denke. Ich wage nicht, es auszusprechen. Enistra, es mag lästerlich klingen, aber dieser Tempel ist kein Götterwerk.
Es steht geschrieben, dass die Götter den Menschen nach ihrem Bilde schufen. Aber gestern fragte ich im dritten Raum den Verwalter, wie denn seine Herren aussähen. Darauf erschien auf einer Wand ein paar Atemzüge lang ein Bild, so bunt und so genau, als wäre es Wirklichkeit. Frage mich nicht, wie er das bewirkte. Jedenfalls waren sie ganz anders als wir. Sie trugen fremdartige Kleidung, nicht unähnlich der der Barbaren in den Kristallfelsen. Vor allem hatten sie keine Pfoten, ganz so, wie es die Skizze auf der Steintafel vermuten ließ.
Getreu deiner Frageweise müsste man nun nachdenken, weshalb der Verweser des Tempels Altanchisch spricht. Ein Gott oder Dämon ist allmächtig und brauchte keine Verständigungsschwierigkeiten hinzunehmen, indem er eine kaum mehr gebräuchliche Sprache benutzt. Ich glaube daher nicht weit von der Wahrheit zu sein, wenn ich an der Göttlichkeit des Sprechers zweifle. Was seine Lebensdauer angeht, so könnte ich kurz behaupten, dass niemand ahnt, wie lange jemand lebt, der eben kein Mensch ist. Das wäre zu billig; zumal kam mir in der letzten Nacht eine wahnwitzige Idee, die ich freilich nie aussprechen werde: Wenn dort niemand spricht? Wenn es etwas Ähnliches ist wie die Spieluhren, die fahrende Gaukler aus Anche benutzen – natürlich sehr viel vollkommener gebaut, wie ja auch der Tempel weit besser ist als alles, was wir kennen!
Wer die Erbauer waren, kann ich nicht wissen; vielleicht weißt du es bereits. Aber ich versuche die Antwort zu finden, indem ich zuerst erwäge, wie sie waren. Gewiss wohlwollend, denn sie lehren uns durch den Zwang zum Nachdenken doppelt. Fünfzehn Dynastien sind vergangen, seit sie gingen; und ich stand im vierten Zimmer. Demnach müssten noch bald fünfzig Dynastien verlöschen, bis jemand in der Kuppel die ganze Wahrheit erkennt. Inzwischen werden wir alle die Weisheiten erfahren haben, die den Weg dorthin öffnen. Und es wird sich auch manches andere wandeln.
Du hast aus dem Jenseits zugesehen, wie ich dem Prinzen bezüglich der Katapulte antwortete. Die Antwort des Tempelverwalters lautete aber anders, doch ich wagte nicht, sie zu wiederholen: ‚Bessere und wirksamere Waffen werden den Zugang zur Wahrheit erschweren!‘ Wenn ich das durchdenke, muss ich die ... anderen achten. Von welchem Thron aus kann man so reden!
Ich schrieb ‚andere‘. Woher kamen sie zu uns, wenn sie keine Götter sind? Vermutlich sagt es die Sage: Sie stiegen unter Rauch und Feuer herab und kehrten als Feuerstrahl in den Himmel zurück. Woher und wohin? Weit weg, sonst hätte man mich nicht gefragt, wie weit es bis zur roten Sonne sei. Zu dem Zweck müssen sie dort entlang gegangen oder geschwebt sein.
Es gibt noch viele Fragen, Enistra. Wie will der Verweser seine Herrn verständigen, was er doch ankündigte? Warum ließ man ihn hier zurück, kommen seine Herren denn erst in grauer Spätzeit aufs Neue her – und warum dann? Worin besteht die Wahrheit in der Kuppel, im Weg zu ihnen?
Es wird spät, ich bin müde. Ich habe wohl noch ein Jahr zu leben. Ich weihe es dieser gigantischen Aufgabe. Sollte ich scheitern, werden Schüler den Weg weitergehen. Ich verspreche es dir. Du wirst nicht umsonst gestorben sein.“
Er tat den Pinsel beiseite, überlas den Text noch einmal und rollte die Rinde zusammen. Sorgsam umwand er sie mit einem Band, versiegelte es und warf die Rolle ins Feuer.
Das dünne Material flammte auf, loderte hoch und verzehrte sich. Während die Reste zerfielen, kräuselte sich ein Rauchfaden in die Höhe. Agrast sah dem schweigend zu. Dann begab er sich in die Bibliothek, um die Fragen für den kommenden Tag zurechtzulegen.

© 1985, Rolf Krohn

 

Anmerkung

• Die Erzählung erschien in meinem ersten SF-Sammelband „Begegnung im Nebel“