(Sonstiges)   Leseprobe Roman

Die Probe stammt aus „Das dunkle Bild der Liebe“, etwa aus der Mitte des Romans.
Der Text wurde geringfügig gekürzt.


10

Ein Computer, ein Tastentelefon und das Bundespräsidentenfoto an der Wand, das waren die deutlichsten Unterschiede zu damals. Geschönt war freilich auch dieser Bilddruck, wenngleich nicht so plump wie früher. Marlow hatte in den Jahren seiner Existenz als Privatdetektiv schon oft mit der Polizei zu tun gehabt, und jedes Mal pflegte er das Büro mit denen zu vergleichen, in denen zu seiner Zeit verhört wurde. Damals hatte er nur beobachtet, wie ein Erfahrener vorging – einzig in den Tagen der Wende, als Personal knapp war, sollte er Demonstranten ausfragen, obwohl ihm da längst schwante, dass es um die vertraute DDR übel stand. Darauf blickte er heute sehr ungern zurück, und eben deshalb ließ jeder Aufenthalt in einem Polizeirevier diese Erinnerung hochquellen.
Anders denken, an Anderes denken! Er taxierte den Computer und stufte ihn als wenigstens fünf Jahre alt ein – heutzutage war das eine Ewigkeit. Die Privatwirtschaft verbannte so ein Ding in den Müll, der öffentliche Dienst musste sparen, und in einer Provinzstadt genügte es eventuell. Der Safe in der Zimmerecke dagegen konnte sehr gut aus der Zeit des Genossen Ulbricht stammen, ja, ihn würde nicht wundern, wenn das Firmenschild noch auf Kaisers Zeiten verwies. Solche Gerätschaften überdauerten jede Wende.
Deckenlampen dieses Typs hatten in jedem VEB geleuchtet. Auf beiden Fensterbrettern standen Kakteen. Ganz wie ehedem. Stachelpflanzen lebten lange ..., vielleicht waren sie zu Ehren des Generalissimus Stalin angeschafft worden. Was würden sie noch zu sehen bekommen?– Gott sei Dank waren die Tische modern, nicht mit dem splittrigen Sprelacart bedeckt; und auf dem Stuhl konnte man sogar länger als fünf Minuten sitzen.
Er saß schon etliche Minuten, und im Raum war es still. Der Polizist auf der anderen Seite des Schreibtischs, älter, fast dick, sah sehr müde aus. Der Mann hatte ihn zerstreut freundlich begrüßt, sich als Kommissar Seifert vorgestellt, ihm den Platz zugewiesen und sich dann in eine Akte vertieft, die der begleitende Beamte überreicht hatte. Mehr zu sagen gab es wohl nicht.
‚Er will mich durch Schweigen nervös machen.‘ Marlow amüsierte sich bei dieser Vorstellung. Vom Geschäft verstand er ebenso viel. Doch was sollte das? Um ihn ging es gar nicht. Er war der Bestohlene.
„Sehen wir den Dingen ins Auge“, begann der andere und klappte die Mappe zu. „Es steht geschrieben, dass Sie heute nach Hassenstein gefahren sind, Ihr Auto gegen vier Uhr in der Lindenstraße abgestellt haben – übrigens auf einem Fußweg, was verboten ist – und sich entfernten. Sie suchten eine Familie Schmitz auf, Lindenstraße 2c. Als Sie zurückkehrten, war der Wagen weg, anscheinend gestohlen. Sie haben den Sachverhalt um achtzehnvierzig gemeldet.“
„Ohne Verzug, ganz recht.“ Der Detektiv verzichtete darauf, anzumerken, es habe kein Parkverbotsschild gegeben. Er war sicher, darum ging es dem anderen nicht. Immerhin, Ironie verriet Verstand. Vorsicht also!
„Eine Streife befand sich in der Nähe, sie brachte Sie her.“
„Weil Chancen bestünden, den Aufbrecher zu identifizieren.“
„Ausgezeichnete Chancen sogar. Er ist in Gewahrsam.“ Der Kommissar sprach, als gehe es ums Wetter des letzten Jahres. Ohne aufzusehen, entnahm er der Akte zwei Handvoll Blätter und breitete sie aus. „Haben Sie eine der Personen schon mal gesehen? Kennen Sie gar jemand? Nehmen Sie sich Zeit. Eile ist jeder Sorgfalt abträglich.“
Es waren Ausdrucke, wie sie ein Identifikationsprogramm produzierte. Auf dem Bildschirm wurden einem Zeugen, ausgehend von der Silhouette, Gesichtselemente gezeigt, je nach Aussage einkomponiert und zuletzt sogar mit Details wie Brille, Falten und Narben ausgestattet. Früher hatten Zeichner die Fahndungsporträts für Zeitungen und Fernsehen gemacht, aber das lag lange zurück.
Die meisten Bilder warf Marlow nach links. Eines flog nach rechts, eines ließ ihn lächeln, und er legte es vor sich hin.
„Die da sind mir fremd. Den Schnurrbartmensch dort habe ich heute gesehen; als ich meinen Wagen abstellte, bastelte er an dem seinen, drei oder vier Autos weiter. – Und der dritte, nun ja ... Falls Ossis und Wessis Kollegen sein können, ist er einer, von drüben aus Wilderode. Den haben Sie hineingemischt, um zu sehen, wie gut mein Erinnerungsvermögen ist.“
Seifert nahm die Antwort unbewegt hin. „Test muss sein. Sie sind sicher, die übrigen nicht zu kennen?“
Marlow studierte die Blätter nochmals und legte sie wieder weg. „Absolut sicher.“
„Aha. Sie befanden sich fortdauernd in der Wohnung Schmitz?“
„Nirgendwo anders. Fragen Sie die beiden!“
Der Polizist ließ nicht merken, ob das vielleicht schon jemand getan hatte. „Haben Sie zwischendurch auf die Straße gesehen, wie es Ihrem Auto geht?“
„Wie hätte ich das tun sollen? Das Zimmer, in dem ich mich mit den beiden unterhielt, weist auf den Hof. Vielleicht hat die Wohnung gar kein Fenster zur anderen Seite hin.“
„Ist Ihnen überhaupt etwas aufgefallen?“
„Eine Polizeisirene. Gegen halb sechs. Wo und womit sich Ihre Leute beschäftigten, war nicht auszumachen.“
„Die waren in der Lindenstraße, sozusagen hinter Ihrem Rücken“, sagte Seifert ganz gelassen. „Folgendes Ereignis ist Ihnen entgangen: Kurz nach fünf kam ein junger Mann mit Kuttenmantel und Mütze“– er schob ein Bild vor, das Marlow beiseite getan hatte – „den Fußweg entlang, der zwischen dem Neubaublock und dem Einfamilienhaus der Klemms führt; zuvor hatten Sie ihn benutzt. Er lief geradewegs zu Ihrem Wagen, schloss offenbar mühelos auf und wollte einsteigen.“
„Ach nein!“
„Ach ja. – In diesem Moment sprangen drei andere Männer, die hinter Autos gehockt hatten, aus ihren Verstecken vor und fielen über den Dieb her. Sie schlugen ihn rabiat zusammen. Wie die Verletzungen zeigen, benutzte einer sogar ein Metallrohr. – Als sie des Bösen genug getan hatten, räumten zwei Ihren Besitz aus, der Dritte“– er wies auf das Foto des Schnurrbärtigen –„holte einen Wagen, wohl den, an dem Sie ihn stehen gesehen hatten. Damit machten sie sich davon.“
Marlow schluckte. Allzu genau besann er sich auf die Geschehnisse des gestrigen Abends. Denn natürlich waren es dieselben Leute. Die Kerle hatten Lehren gezogen. Und er?! „Der Verprügelte muss eine eiserne Konstitution haben, dass er Ihnen so viel erzählen konnte.“
Immer noch schien Seifert der Vorgang ungemein zu langweilen, kaum dass er aufschaute. „Nein, der liegt auf der Intensivstation. Es steht schlecht um ihn. – Aber am Eckaufgang, wo Einzimmerwohnungen sind, wohnt ein Rentner. Weil er sich kaum noch rühren kann, ist es sein Hauptvergnügen, das Geschehen auf der Straße zu verfolgen. Wetter hin, Wetter her – er saß die ganze Zeit am Fenster und beobachtete. Wegen des Autoeinbruchs und der Prügelei rief er die Streife; die kam nur Minuten später, aber leider zu spät. Ihr Wagen wurde zur Beweissicherung mitgenommen.“
Das klang nach einer Frage, doch Marlow wollte nicht umständlich darlegen, wie sich alles verhielt. „Das Ehepaar Schmitz erzählte mir, dass in dieser Stadt ziemlich viel los sei – sie sagten ‚kriminelle Ausländer‘. Das braucht nicht zu stimmen. Kann es sein, dass das Trio eine Art ... Selbsthilfegruppe ist? Eventuell haben sie einen Hinterhalt gelegt und dann im Eifer zu gründlich zugeschlagen.“
Seifert gab keine Antwort.
„Aber mit dem Bild werden Sie erst den einen und dann die beiden anderen fangen. Wenn es den Männern vor allem darum ging, den Dieb zu verprügeln, wurde mein Auto also bloß ramponiert. Stehlen konnten sie daraus nur einen Stadtplan von Hassenstein und etwas zu essen für heute Abend. Solche Bagatellen brauchen nicht ins Protokoll. Denn ich werde eines brauchen, für die Versicherung.“
„Fleißige Finger schreiben es gerade.“
„Danke. Ich bin erleichtert, dass jemand alles beobachtet hat. Meist hat man ja weniger Glück. – Haben Sie sonst noch Fragen, Herr Kommissar?“
„Zum Diebstahl gibt’s wenig zu fragen. Wir haben den Täter; ob er gesteht oder nicht, spielt keine Rolle. Bestraft wurde er gewissermaßen schon.“
Das Telefon summte. Seifert bat mit einer Geste um Verzeihung, hob den Hörer ab und meldete sich. Er hörte eine Weile zu und sagte dann: „Wie es eben ist. Erledigen Sie das Übliche – Sie wissen ja, Protokoll und so weiter. Wir sehen dann zu.“
Er tat den Hörer zurück. „Wo war ich? Ach ja: Bestraft wurde er schon. Rasche Justiz ist gute Justiz.“
„Früher wurde Dieben eine Hand abgehauen. Eine gemessene Tracht Prügel ist quasi dasselbe. – Verstehe ich recht, dass ich dann gehen kann? Das Gericht wird mir schreiben, wann der Prozess ist, nicht wahr?“
Der Kommissar kritzelte etwas auf einen Zettel und heftete ihn an die Mappe. „Auf das Vergnügen werden Sie vorerst verzichten müssen. Der Anruf eben kam aus dem Krankenhaus. Ibrahim Margosi wird nie mehr Autos stehlen.“
Marlow berührte es kalt. „Tot?“
„Rundum gelähmt. Ein Blutgerinnsel. – Natürlich behauptet niemand, dass Sie daran beteiligt waren ...“ Er klappte die Akte zusammen.
„Aber? Da ist doch ein Aber.“
„Aber wir sollten jetzt vielleicht vernünftig miteinander reden.“ Seifert fixierte ihn – ein schwerer, ruhiger Blick. Nein, dieser Mann war keineswegs müde oder träge. „Ich dächte, wir wären von derselben Branche. Sie glauben wohl, ich habe Ihnen vorhin zufällig das Bild meines Kollegen vorgelegt? Es sollte Ihnen zeigen, dass ich weiß, was gestern drüben in Wilderode geschah. Sie aber taten nicht dergleichen. Warum haben Sie das verschwiegen? Die beiden Überfälle hängen natürlich zusammen. Sie wissen das genau. Den Fall von gestern zu unterschlagen, heißt die Ermittlungen zu erschweren. Und es legt nahe, dass Sie auch anderes verheimlichen. Stimmt’s?“
„Durchaus nicht“, erwiderte Marlow mit belegter Stimme. Den Mann hatte er unterschätzt.
„Sondern?“
„Die Attacke gestern – ich kann sie nicht einordnen. Wer sollte in Wilderode den Hallenser Ernst Marlow kennen und wissen, wo der früher gearbeitet hat? Mir war bestimmt keiner nachgefahren. Konnte jemand Straße für Straße abklappern, bis er meinen Wagen anhand der Nummer fand? Unfug. Zufall? Nein.“
„Nein“, wiederholte der Kommissar. „Es blieb der Zusammenhang über Ihren Auftrag, das wussten auch meine Kollegen drüben. Darum haben die danach gefragt, und darum frage ich jetzt danach.“
„Ich wiederhole Ihnen wie denen, dass ich meinen Klienten schützen muss.“
„Dass Ibrahim Margosi halb totgeschlagen wurde, ändert die Dinge ein bisschen. Vielleicht sagen Sie das Frau Veilmann. Oder ist für die ein Albaner kein Mensch?“
Marlow zuckte hoch. Das war wie ein Tritt vors Schienbein.
Seifert lächelte flüchtig, aber unfreundlich. „Ihnen brauche ich doch nicht olle Kamellen zu servieren.“ Er bog Finger ein. „Wo und bei wem waren Sie gestern? Wo und bei wem waren Sie heute? Was verbindet beide? Wer kann es sich leisten, einen Privatdetektiv einzusetzen? Die Antwort heißt Ines Veilmann.“
„Muss ich mich dazu äußern?“
„Nein. Aber sagen müssen Sie mir jetzt, ob im Umfeld Ihres Auftrages jemand steckt, dem so etwas zuzutrauen ist. Vielleicht sehen Sie die Bilder noch einmal an.“
Marlow spürte Hitze im Gesicht. Blamabel, dass jemand ihn so durchschaute! Das untergrub seine Selbstachtung. Um davon abzulenken, griff er zu den Bilddrucken. Aber auch jetzt ...
„Was ich vorhin sagte, gilt immer noch. – Aber es verletzt die Interessen meiner Klientin nicht, wenn ich Ihnen versichere, dass mein Auftrag nichts Kriminellem gilt.“
Er sah, wie wenig Glauben seine Erklärung fand, und fügte hinzu: „Thema sind ein früherer Freund und die damaligen Beziehungen.“
„Erpressung?“
„Keinesfalls. Nichts dergleichen. Wirklich bloß die Kontakte. Ihre Art, ihr Umfang, Anfang und Ende. Vielleicht die Folgen.“
Seifert fixierte ihn argwöhnisch. „Ich kann Sie nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen ...“
„Es ist die Wahrheit. Ich habe sogar mehr erzählt, als ich sollte.“
„Wenn das so ist ...“
„Das ist so!“, erwiderte er unwillig.
„... dann muss ich mich über Sie wundern. Denn es ist offensichtlich, dass Sie in etwas höchst Kriminelles getappt sind. Herrgott, Sie hüpfen wie ein Mops im Sonnenschein herum, ohne darauf zu achten, wohin Sie treten.“
Marlow lief rot an. Eine Ohrfeige mitten auf Halles Marktplatz hätte ihn weniger gedemütigt. Dabei glaubte er von sich, seinen Beruf zu beherrschen! Ein Kommissar aus der Provinz – dem Dialekt nach ein Vogtländer – musste kommen, um ihm das ins Gesicht zu schleudern. Und es galt! ‚So unglaublich es scheint – die Überfälle haben mit meinem Auftrag zu tun. Irgendwie, irgendwo. Jetzt muss ich den Fall lösen, denn dadurch komme ich jenem Trio auf die Schliche und erfahre, was sie aufgescheucht und angestachelt hat.‘
Seifert sammelte die Papiere ein. Unversehens sprach er in völlig anderem Ton, unbeteiligt, aber nicht müde. „Ihr Wagen steht unten. Er hat ein paar Kratzer, ist aber fahrtüchtig, wie die Werkstatt schwört. So viel ich mir von Ihrem Auftrag zusammenreime, wird Detektiv Ernst Marlow in nächster Zeit noch mehrmals hier sein. Das Protokoll ist bald fertig geschrieben. Kommen Sie dann und zeichnen Sie das Papier ab.
Eventuell ist in Ihnen bis dahin die Einsicht erwacht, dass wir gemeinsam am Strick ziehen sollten. Oder vielleicht“– er lächelte nicht –„liegen Sie bis dahin schon auf einem Operationstisch. Ihre Gegner wissen nämlich mittlerweile, dass sie das falsche Kalb geschlachtet haben. Beim nächsten Mal schauen sie zweifellos beizeiten hin, bevor sie jemand zusammenschlagen.
Fragen Sie im Sekretariat, womöglich ist das Protokoll bereits fertig. Angenehme Heimfahrt.“
Marlow bemühte sich um eine Antwort, ihm fiel aber nichts Geeignetes ein.
„Ach ja“, sagte der Kommissar, als die Tür fast schon ins Schloss geklinkt war, „falls wir uns gar nicht wiedersehen, grüßen Sie doch bitte die Unterwelt!“

© 2005, Rolf Krohn